Dem Zeitschrift 'Der Spiegel' entnommen: Kapitalismus ohne Grenzen

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Zwanzig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung genügt im kommenden Jahrhundert

Anpassung nach unten

    Durch Hans-Peter Martin und Harald Schumann
    beide 39, sind -Redakteure

Ihr Buch 'Die Globalisierungsfalle, 352 Selten, 38 Mark,
ist jetzt im Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg, erschienen. Auszüge:

Übersetzung aufs Niederländisch

Zwanzig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung werden im kommenden Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. "Mehr Arbeitskraft wird nicht gebraucht", meint der asiatische Tycoon Washington SyCip. Ein Fünftel aller Arbeitsuchenden werde genügen, um alle Waren zu produzieren und die hochwertigen Dienstleistungen zu erbringen, die sich die Weltgesellschaft leisten könne - egal in welchem Land.

Nicht mehr die Zwei-Drittel-Gesellschaft, vor der sich die Europäer seit den achtziger Jahren fürchten, beschreibt demnach die künftige Verteilung von Wohlstand und gesellschaftlicher Stellung. Das Weltmodell der Zukunft folgt der Formel 20 zu 80. Die von Ökonomen und Politikern verbreiteten Erklärungen für den Niedergang gipfeln stets in einem Wort: Globalisierung. Vom Konzernchef bis zum Arbeitsminister kennt die Führungsringe der Republik nur eine Antwort: Anpassung nach unten.

Unentwegt sind die Bürger einer Kakophonie aus Verzichtsforderungen aufgesetzt. Die Deutschen arbeiten zuwenig, beziehen zu hohe Einkommen, machen zuviel Urlaub und feiern zu oft krank, behauptet ein Chor aus Verbandsfunktionären, Sachverständigen und Ministern. Die Reformer im Zeichen der Globalisierung kündigen den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag der Republik, der die soziale Ungleichheit durch progressive Besteuerung und das soziale Netz in Grenzen hielt. Das Modell des europäischen Wohlfahrtstaats habe ausgedient, propagieren sie, im weltweiten Vergleich sei er nun zu teuer.

Der Internationalismus, einst eine Erfindung sozialdemokratischer Arbeiterführer gegen kapitalistische Kriegstreiber, hat die Seiten gewechselt. Weltweit spielen über 40000 transnationale Unternehmen aller Größenordnungen ihre Beschäftigten ebenso wie die Staaten gegeneinander aus. In einer globalen Zangenbewegung hebt die neue Internationale des Kapitals ganze Staaten und deren bisherige gesellschaftliche Ordnung aus den Angeln. An der einen Front droht sie mal hier; mal dort mit Kapitalflucht und erzwingt so drastische Steuerabschläge sowie milliardenschwere Subventionen oder kostenlose Infrastruktur. Wo das nicht wirkt, hilft Steuerplanung im großen Stil: Gewinne werden nur noch in den Ländern ausgewiesen, in denen der Steuersatz auch werklich niedrig ist.

Weltweit sinkt der Anteil, den Kapitaleigner und Vermögensbesitzer zur Finanzierung staatlicher Aufgaben beitragen. Auf der anderen Seite fahren die Lenker der globalen Kapitalströme das Lohnniveau ihrer steuerzahlenden Beschäftigten kontinuierlich nach unten. Auch Lohnquote, der Anteil der Lohnbeziehcr am gesellschaftlichen Reichtum, sinkt in' Weltmaßstab.

Nur von propagandistischem Wert ist daher die häufig vorgebrachte Behauptung, Einkommensverluste und wachsende Arbeitslosigkeit im Norden seien die zwangläufige Folge der ökonomischen Aufholjagd des Südens, mit der die bisher armen Länder nun ihren gerechten Anteil am weltweiten Wirtschaftskuchen fordern. Die meisten Ökonomen, die von den Lohn- und Gehaltsempfängern Verzicht einfordern, weil neue billige Arbeiterheere auf den Markt drangen, verschweigen, daß ja die Wirtschaftsleistung der reichen Linder nach wie vor wächst und die Rendite auf das eingesetzte Kapital 50-gar noch schneller zulegt. Darum nehmen keineswegs die armen Linder den reicheren Staaten den Wohlstand weg.

Andersherum ist es richtig: Es sind die Privilegierten in Nord und Süd, also Vermögende, Aktionäre und Hochqualifizierte, denen die Globalisierung der Ökonomie auf Kosten der übrigen Bevölkerung einen immer größeren Teil des weltweit erwirtschafteten - und wachsenden - Wohlstands zuschanzt. Doch der Turbo-Kapitalismus, dessen weltweite Durchsetzung jetzt unaufhaltsam scheint, zerstört die Grundlagen seiner Existenz: den funktionsfähigen Staat und die demokratische Stabilität. Das Tempo der Veränderung erodiert die alten sozialen Einheiten schneller, als das Neue sich entwickeln kann. Die bisherigen Wohlstandslinder verzehren die soziale Substanz ihres Zusammenhalts, schneller noch als die ökologische.

Neoliberale Ökonomen und Politiker predigen der Welt das "amerikanische Modell", doch diese Parole gleicht furchterweckend der Propaganda der DDR-Regierung, die bis zu ihrem Ende von der Sowjetunion das Siegen lernen wollte. Schließlich wird der gesellschaftliche Zerfall nirgendwo deutlicher als in' Ursprungsland der kapitalistischen Gegenrevolution, den USA: Die Kriminalität hat epidemische Ausmaß angenommen. Aber auch Europa und Japan, China und Indien spalten sich in eine Minderheit von Gewinnern und eine Mehrheit von Verlierern. für viele hundert Millionen Menschen gilt: Der globalisierte Fortschritt ist gar keiner.

Doch der Protest der Verlierer trifft auf Regierungen und Politiker, deren Gestaltungsmacht kontinuierlich schrumpft. Egal, ob soziale Gerechtigkeit hergestellt oder die Umwelt geschützt werden muß, ob Medienmacht begrenzt oder die internationalisierte Kriminalität bekämpft werden soll: stets ist der einzelne Nationalstaat überfordert, und ebenso regelmäßig scheitert die internationale Konzertierung. Wenn aber Regierungen in allen existentiellen Zukunftsfragen nur noch auf die übermächtigen Sachzwänge der transnationalen Ökonomie verweisen, gerinnt alle Politik zu einem Schauspiel der Ohnmacht, und der demokratische Staat verliert seine Legitimation. Die Globalisierung gerät zur Falle für die Demokratie. Nur naive Theoretiker oder kurzsichtige Politiker glauben, man könne Jahr für Jahr Millionen Menschen um Jobs und soziale Sicherheit bringen, ohne dafür den politischen Preis bezahlen zu müssen. Anders als in der betriebswirtschaftlichen Logik der Konzernstrategen gibt es in demokratisch verfaßten Gesellschaften keine "Surplus people", keine überflüssigen Bürger. Die Verlierer haben eine Stimme, und sie werden sie nutzen.

So laden sich die bisherigen Wohlstandsnationen mit einem wachsenden Konfliktpotential auf, das die einzelnen Staaten und ihre Regierungen bald nicht mehr entschärfen können. Gelingt es nicht, rechtzeitig gegenzusteuern, wird sich unvermeidlich eine gesellschaftliche Abwehrreaktion formieren, die vorhersehbar protektionistische und national orientierte Züge tragen wird.

Die Ein-Fünftel-Gesellschaft, 20 zu 80, folgt durchaus der technischen und wirtschaftlichen Logik, mit der Konzernführer und Regierungen die globale Integration vorantreiben. Aber der Welt-Wettlauf um höchste Effizienz und niedrigste Löhne öffnet der Irrationalität die Türen zur Macht. Es sind nicht die wirklich Notleidenden, die rebellieren. Unkalkulierbare politische Sprengkraft entspringt vielmehr der Furcht vor Deklassierung, die sich jetzt in der Mitte der Gesellschaft ausbreitet. Nicht die Armut gefährdet die Demokratie, sondern die Angst davor.

DER SPIEGEL 39/1996

Übersetzung aufs Niederländisch